Ein Patient liegt nach einem Schlaganfall auf der neurologischen Intensivstation. Was ist für die Therapie, die Sie den Angehörigen erklären, die entscheidende Frage?
Ein Schlaganfall verursacht in vielen Fällen einen schweren Hirnschaden mit gravierenden Folgen für die körperliche und geistige Funktionsfähigkeit. Dann geht es immer um die Frage, ist danach ein „lebenswertes“ Leben möglich. Die Antwort wird individuell unterschiedlich sein. Entscheidend ist deshalb nicht meine eigene Wertevorstellung, die des Behandlungsteams oder der Angehörigen, sondern nur die des Patienten. Meine Aufgabe als Arzt ist es, die Frage zu prüfen, ob auf Basis einer realistischen Langzeitprognose ein im Sinne des (mutmaßlichen) Patientenwillens noch als lebenswert empfundener Zustand mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erreichbar ist. Daher müssen wir prüfen, ob unsere auf Lebenserhaltung ausgerichtete Therapie wirklich dem Patientenwillen entspricht. Es geht darum, was für den betroffenen Patienten Lebensqualität bedeutet, welche Aktivitäten des täglichen Lebens für ihn wichtig sind, was ihm Teilhabe bedeutet. Komplizierter wird die Situation dadurch, dass auf Grund schwerer Folgen des Schlaganfalls viele Patienten nicht mehr in der Lage sind, ihren Willen selbst zum Ausdruck zu bringen. Nur in seltenen Fällen liegt jedoch eine aussagekräftige Patientenverfügung vor. In ca. 90 % der Fälle müssen wir ohne Patientenverfügung entscheiden. Aber auch in diesen Situationen sind wir nach §1901 des BGB verpflichtet, den mutmaßlichen Patientenwillen sorgfältig festzustellen und diesem zu folgen. Deshalb ist es unsere Aufgabe, in den Gesprächen mit Angehörigen möglichst neutral den Willen des Patienten zu den o.g. Aspekten einer Patientenverfügung festzustellen. Wir tun also so, als ob wir nachträglich eine Patientenverfügung erstellen. Aus den Gesprächen wird dann in der Regel klar, ob in der Familie jemals über Fragen zu Entscheidungen am Lebensende und den Patientenwillen gesprochen wurde. Handelt es sich also mehr um unbestimmte Gefühle bzw. Mutmaßungen des Angehörigen oder lässt sich der Wille des Betroffenen daraus ableiten.
Was sollte in der Patientenverfügung festgehalten werden?
Das Wichtigste, was dargelegt sein sollte ist, welche Form von dauerhafter Behinderung sicher dagegen sprechen würde, eine lebensverlängernde Therapie fortzuführen. Dazu gehören beispielsweise vollständige Pflegebedürftigkeit, die Unfähigkeit zu Kommunizieren, sich selber zu ernähren oder seinen Körper zu pflegen, eine schwere geistige Störung. Hilfreich kann auch der Verweis auf andere wichtige Einflussfaktoren sein, z. B. schwere vorbestehende Erkrankungen und damit verbundene Erfahrungen, ein schon vorbestehender verminderter Lebensmut oder die fehlende Motivation, sich durch eine ggf. notwendige langwierige Rehabilitation zurück ins Leben zu kämpfen. Aus ärztlicher Sicht sind Patientenverfügungen aus einem weiteren Grund sehr hilfreich. Neben den o.g. Informationen weisen sie eine Ansprechperson aus, in der Regel Lebenspartner, Kinder oder Eltern. Die Person kennt damit die Vorstellungen des Patienten zu diesem Thema und kann diesen nach bestem Wissen und Gewissen vertreten.
Wie gehen Sie an diese schwierigen Gespräche heran?
Bei schwer betroffenen Patienten, bei denen Entscheidungen am Lebensende anstehen, nehmen wir uns für die Gespräche mit den Angehörigen viel Zeit - obwohl diese eigentlich im Krankenhausablauf nicht vorgesehen ist. In der Regel benötigen wir mehrere Gespräche. Diese dauern jeweils eine halbe bis zu einer Stunde. Wir versuchen die Angehörigen möglichst frühzeitig im Krankheitsverlauf mit in die Entscheidungsfindung einzubinden. Wir machen klar, dass eine lebensverlängernde Therapie nur sinnvoll ist, wenn der Patient eine realistische Chance hat, einen für ihn selbst akzeptierbaren Zustand zu erreichen. Wenn diese unklar ist, was nicht selten der Fall ist, besprechen wir auch die modernen Konzepte der Palliativversorgung. Sofern prognostisch aus unserer Sicht ein entsprechend des (mutmaßlichen) Patientenwillens nicht mehr lebenswertes Leben im weiteren Verlauf erreichbar ist, werden wir eine sterbebegleitende Therapie anbieten. Hierbei ist für uns die mittelfristige und langzeitige Prognose wichtig. Es gibt aber auch schon frühzeitig im Verlauf der Erkrankung Konstellationen, wo vonseiten der Angehörigen vollkommen nachvollziehbar der Patientenwunsch vorgetragen wird, dass eine lebensverlängernde Therapie nicht mehr gewollt ist. In diesen Fällen treffen wir frühzeitig die Entscheidung, den Menschen in Würde gehen zu lassen. Dann ist unserer Hauptaufgabe ebenfalls die Sterbebegleitung, da diese Patienten in der Regel nicht mehr durch eine nachgeordnete Einrichtung oder gar zu Hause versorgt werden können. Wir schaffen dann den dafür notwendigen Rahmen, der es auch den Angehörigen ermöglicht, sich in Ruhe und mit Würde zu verabschieden. Meine Erfahrung ist, wenn es schon früh im Krankheitsverlauf um die Grundsatzfrage geht, lebenserhaltend oder palliativ zu behandeln, ist es meistens sinnvoll, beide Optionen anzusprechen. Schwierig wird es, wenn in der Familie sehr unterschiedliche Vorstellungen zum mutmaßlichen Patientenwillen vorhanden sind. Hierbei muss zunächst zwischen dem Willen der Angehörigen und dem mutmaßlichen Willen des Patienten unterschieden werden. Vielen Angehörigen fällt das sehr schwer. In dieser emotional schwierigen Situation ist es wichtig, klar zu machen, dass es nicht darum geht, ob man einen nahen Angehörigen gehen lassen will, sondern ob die lebensverlängernde Therapie dem Willen des Patienten entsprechen würde.
Was ist zu tun, wenn es in der Familie keine einheitliche Meinung gibt?
Es kommt nicht selten vor, dass zwischen den Angehörigen unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen, ob eine lebensverlängernde oder sterbebegleitende Therapie durchgeführt werden sollte. In den Gesprächen versuchen wir die Angehörigen zusammen zu führen. Trotzdem kann auch am Ende einer Vielzahl von Gesprächen stehen, dass die vorgebrachten Informationen der Angehörigen keinen sicheren Rückschluss zum Patientenwillen erlauben. Auch in Fällen mit sehr schlechter Langzeitprognose muss die lebensverlängernde Therapie fortgesetzt werden, wenn der mutmaßliche Patientenwillen nicht zweifelsfrei zu erheben ist. Mein primärer Behandlungsauftrag als Arzt ist es, möglichst Leben zu erhalten und Schaden von einem Menschen abzuwenden. Aus dieser Sicht heraus ist der Tod der größte, nicht wieder rückgängig zu machende Schaden. Insofern ist die Entscheidung gegen eine lebensverlängernde und für eine sterbebegleitende Therapie eine der schwersten ärztlichen Entscheidungen. Diese lässt sich nur vor dem Hintergrund einer hinreichenden Sicherheit in Bezug auf den mutmaßlichen Patientenwillen treffen. In extremen Fällen bleibt die Widersprüchlichkeit zwischen mutmaßlichem Patientenwillen und Angehörigenmeinung erhalten, so dass man eine lebensverlängernde Therapie durchführen müsste, wenn man der einen Seite folgen würde, oder eben eine sterbebegleitende Therapie, folgt man der anderen Seite. Kommt es auf Basis eines nicht sicher festzustellenden Patientenwillens zu einer solchen Konfrontation, dann bedarf es der Unterstützung durch ein Betreuungsgericht und der Einsetzung eines Amtsbetreuers, also einer von den Angehörigen unabhängigen Person, die dann den Patienten vertritt.
Warum ist es so wichtig, auch nach dem überstandenen Schlaganfall mit Patienten und Angehörigen über diese Themen zu sprechen?
Das Risiko, trotz aller Fortschritte in der Medizin, erneut einen behindernden Schlaganfall zu erleiden, ist bei den betroffenen Patienten besonders groß. Häufig sind es auch ältere Menschen, die weitere Erkrankungen haben. Viele haben Angst, ohne jede Teilhabe am Leben und gegen den eigenen Willen dann als Dauerpflegefall zu enden. In unseren Informationsveranstaltungen bereiten wir die Patienten und Angehörigen vor, sich mit diesem Thema und die damit verbundenen Fragen auseinander zu setzen. Eine der zentralen Fragen dabei ist, was würdest Du an Behinderung ertragen können, um selber weiter leben zu wollen. Unser Ziel ist zu Gesprächen über diese Fragen zu ermuntern, ist. In diesen Gesprächen mit dem Partner, den Kindern, der Familie sollten möglichst klare Antworten gefunden werden. Gerade Lebenspartner sollten möglichst sich gegenseitig ihre jeweiligen eignen Vorstellungen darlegen und das Thema auf Augenhöhe betrachten, es geht beide an. Wichtig ist, dass die Partner jeweils akzeptieren, dass sie unterschiedliche Vorstellungen zur eigenen Lebenswertigkeit unter Krankheiten und schweren Behinderungen haben können, die auch unterschiedliche Konsequenzen zu Entscheidungen am Lebensende haben können. Wenn dann die wichtigsten Punkte dokumentiert werden, also eine Patientenverfügung gemacht wird, dann besteht die größte Chance, entsprechend dem eigenen Willen am Lebensende behandelt zu werden.
Das Interview führte Elke Klug.