"DIE WURSTSTULLE" - Erfahrungsbericht
In der Frühreha im Bett: liegen - liegen - liegen. Dann die ersten Minuten sitzen im Rollstuhl. Erst Genuss, dann Qual. Die Schwestern blieben unerbittlich.
Als ich das erste Mal schon eine Stunde lang im Rollstuhl das Sitzen aushalten konnte, wurde ich morgens von einer Schwester über den Flur in den Aufenthaltsraum geschoben. "Ab heute können Sie hier zusammen mit den Anderen frühstücken." Sie stellte für mich eine Tasse mit Griessuppe zurecht und eine Weissbrotscheibe mit Teewurst. Mein erstes festen Essen. Wie wunderbar. Und ich mag Teewurst.
Am nächsten Morgen ließ ich mich erwartungsvoll wieder zum Frühstück schieben. Ich betrachtete meinen Nachbarn, der stumm neben mir im Rollstuhl saß. Die Schwester hantierte abseits an der Anrichte. Klatsch - und ich hatte ein kleingeschnittenes Leberwurstbrot auf dem Frühstücksteller. "Guten Appetit"!
Ich mochte keine Leberwurst und schielte neidisch auf meinen Nachbarn, der ein Teewurstbrot auf den Teller bekam.
Neu war am nächsten Morgen die Frage der Schwester "was möchten Sie essen?" Ich war über die Frage so verdattert und musste erst mal registrieren, was ich überhaupt gefragt worden war und was das für mich bedeutet. Bevor ich mit dem Denken fertig war, kam: Klatsch - das kleingeschnittene Leberwurstbrot auf meinem Tisch.
Na, ja. Mir wurde klar: ich muss mich vorbereiten und gewappnet sein.
Also habe ich geübt geübt geübt. Erst habe ich fast einen Tag lang darüber nachgedacht, wie die Wurst heißt, die ich gern esse. Wie hieß das Ding bloß! Ich habe mir Situationen auf den Abendbrottischen vorgestellt. Wie diese Wurst aussieht, wie sie schmeckt, wie sie riecht. Wann ich sie wo zum letzten Mal vor den Schlaganfällen gegessen habe. Als mir der Begriff "Teewurst" endlich einfiel, konnte ich noch nicht schreiben, um diesen Namen festzuhalten und so zur richtigen Zeit parat zu halten. Also habe ich den ganzen Abend vor dem Einschlafen diesen Begriff "Teewurst" wiederholt und immer wieder wiederholt - zwischendurch war der Begriff weg - ich habe ihn mir zurückgeholt und laut vor mich hin gesagt.
Am nächsten Morgen war mein erster Gedanke: wie heißt die Wurst, die ich zum Frühstück haben will? Es dauerte eine Weile, bis ich sie wieder hatte: "Teewurst". Ich versuchte den Begriff wieder zu behalten.
Dieses Üben wurde meine Dauerkonzentration. Und dann kam die Frage der Schwester: "Was möchten Sie essen?" - Ich war vorbereitet - und doch: weg war mein Begriff. Ich wusste ihn nicht mehr. Einen kleinen Moment wartete die Schwester mit dem Messer und der Brotscheibe in der Hand, ich sah sie verzweifelt wortlos an - daraufhin nahm sie eine Leberwurststulle auf den Teller und schob mir energisch den fertigen Frühstücksteller vor meinen Rollstuhl. "
Guten Appetit!" Ich aß die Leberwurststulle dann in dem Bewusstsein: wie wunderbar, dass ich allein abbeißen und kauen und schlucken kann. Für den nächsten Morgen habe ich mir vorgenommen: diesmal schaffe ich es, zur richtigen Zeit "Teewurst" zu sagen. Wieder einen Tag lang üben. Wieder Konzentration Konzentration Konzentration. Dann hatte ich einen Einfall: ich schob mich mit meinem Rollstuhl zum Schwestern-Beistelltisch, wo das Frühstück bereit lag. Ich suchte meine Teewurst und freute mich, sie zu sehen. Ich streckte meine Hand aus, um sie der Schwester, die gerade herauskam, zu zeigen. Sie sah mich an einer "verbotenen" Stelle sitzen, nahm den Rollstuhl und schob mich energisch und etwas tadelnd zurück an meinen Tisch. Jetzt eine strenge Frage "Was möchten sie essen? Wieder Leberwurst?" Weg war wieder mein so mühselig erarbeitetes Wort. Scheiße!
Ich bekam Leberwurst auf meinen Teller. "Guten Appetit!" - Weg war die Schwester.
Am letzten Tag in der Frühreha war eine andere Schwester für das Frühstückmachen eingeteilt. "Was möchten Sie auf das Brot gemacht bekommen". Sie sah aufmerksam in mein verzweifeltes Gesicht. Dann schob sie mich mit dem Rollstuhl zu ihrem Schwesterntisch. "Zeigen Sie mir, was ich Ihnen auf das Brot schmieren soll!" Sie wartete geduldig. Mit einem erleichterten Seufzer zeigte ich mit den Fingern, was ich wollte: Teewurst. Ich habe vor Glück fast geweint, als ich die Teewurststulle dann ganz andächtig und genüsslich gegessen habe.
Hilfreich war beides für mich:
Die Ungeduldigen und Bevormundenen haben dafür gesorgt, dass ich unbedingt zu meiner eigenen Sprache kommen wollte - ausdrücken wollte, was ich will. Sie haben mich veranlasst zu arbeiten, weiterzukommen. Irgendwie in Richtung Selbständigkeit zu gehen. Aber es war sehr anstrengend.
Die Sensiblen haben meiner Seele unendlich gut getan - und mich mit Seufzern der Erleichterung ausatmen und durchatmen lassen. Ich wurde verstanden. Mein Gott - wie wundervoll!!! Sie haben mich hoffen lassen, dass es irgendwie gut wird - auch wenn es gar nicht so aussieht.
Gabriele Weiß, den 02.02.12